Zum Mitdenken gezwungen?

Studieren ist mehr als Wissensakkumulation. Es wird erst dann zum Erfolg, wenn wissenschaftliches Wissen mit den Studierenden weitergedacht, diskutiert und kritisch hinterfragt wird. Professor Joachim Ludwig führte 2009 dazu das Online-Lerntagebuch ein. Was passiert da genau? Und wird das Studium dadurch nicht noch mehr verschult? Interview von Vinzenz Lange.

speakUP: Professor Ludwig, warum haben Sie das Online-Lerntagebuch entwickelt?

Ludwig: Ich habe es entwickelt, damit sich Studierende auf eine reflektiertere Weise Wissen aneignen können als Schüler_innen. Im Studium geht es um wissenschaftliches Arbeiten und wissenschaftliches Denken. Dafür brauche ich eine Didaktik, die das Lernen selbst zum Gegenstand der Reflexion macht. Dies ist das Ziel des Online-Lerntagebuchs. Wer als Student Wissenschaft betreiben soll, muss vor allem Erkenntnisse generieren können und darf nicht nur fertiges Konservenwissen konsumieren.

speakUP: Was bedeutet das genau?

Ludwig: Die Studierenden sollen mit dem Online-Lerntagebuch die Möglichkeit erhalten, sich über ihre Lernwege, Lernstrategien und Lernproblematiken auszutauschen und ihr Lernen zu reflektieren. So wie Wissenschaftler_innen ihren methodischen Zugang zum Forschungsgegenstand kritisch reflektieren. Auf diese Weise wird wissenschaftliches Denken geübt. Darüber hinaus hat das unmittelbar praktische Effekte: Es wird für die Dozent_innen sichtbar, wo gemeinsame Probleme der Studierenden liegen, die es zu bearbeiten gibt und es eröffnen sich Möglichkeiten wechselseitiger Unterstützung durch die Studierenden.

speakUP: Ist also Reflexion des Lernens der Grund, warum Sie das Online-Lerntagebuch eingeführt haben? Weil Wissen und seine lernende Aneignung zu wenig hinterfragt werden?

Ludwig: Das ist die Situation. Wissen und seine Aneignung ist aber immer kritisch zu hinterfragen. Es geht im Studium um den Übergang vom selbstverständlichen Alltagswissen zu kritisch-wissenschaftlichem Denken. Es geht um den Übergang vom Selbstverständlichen hin zu Kritik und Hinterfragung des Selbstverständlichen. Wissenschaft betreiben heißt Kritik zu üben. Wir arbeiten an der Verbesserung von Theorien und Methoden und nicht an ihrer Heiligsprechung.

speakUP: Haben Sie bei Studierenden und Dozierenden oft beobachtet, dass Wissen zu selten hinterfragt wurde?

Ludwig: Das beobachte ich bei Studierenden sehr oft, sogar bis zum Ende des Studiums. Wissen und die darin eingebundenen Theorien werden oft als eine Objektivität behandelt und nicht als ein mögliches Erklärungsangebot, das es weiter zu entwickeln gilt. Der innovative Charakter von Wissenschaft leidet darunter. Viele Lehrende verstehen das Studium nicht als Bildungsmöglichkeit und Bildungsprozess für die Studierenden, sondern orientieren sich vor allem an den Prüfungsleistungen. Bewertet wird dann – angesichts hoher Studierendenzahlen in nachvollziehbarer Weise – was sich gut messen und auswerten lässt.

speakUP: Aber ist damit nicht die Gefahr verbunden, dass durch die zu erledigenden Tagebucheinträge oder die Beantwortung der Fragen so etwas wie Hausaufgaben aufgegeben werden und das Studium gerade dadurch verschult wird? Werden die Studierenden nicht zum Mitdenken gezwungen?

Ludwig: Diese Gefahr besteht. Heute arbeiten wir alle an der Universität unter Bologna-Verhältnissen: Das Studium ist so stark durchorganisiert, dass für die Studierenden ein Zwang zur Ökonomisierung des Studiums geschaffen wird. Durch den wachsenden Druck versuchen die Studierenden, mit einem minimalen Aufwand den maximalen Prüfungseffekt zu erzielen. Dadurch wird aber selbstreflexives Lernen eingeschränkt, weil es immer auch Umwege einschließt. Das Online-Lerntagebuch will Gelegenheiten für reflexives Lernen schaffen. Das ist tatsächlich eine Aufgabe und eine nicht zu unterschätzende Leistung. Sie soll aber den Studierenden bei ihrem persönlichen Zugang zur Wissenschaft helfen. Wenn diese Reflexion als zusätzliche „Hausaufgabe“ verstanden wird, läuft etwas falsch, das zu besprechen wäre.

speakUP: Was genau ist der gewünschte Effekt des Tagebuchs?

Ludwig: Die Ökonomisierung des Studiums und die Verschulung sollen überwunden werden. Denn wissenschaftliches Denken ist ein Lernprozess, der nicht immer gerade verläuft und manchmal in Sackgassen endet. Dann muss man neue Wege suchen. Wer wissenschaftlich arbeitet, kann sich nie ganz von der Ökonomie frei machen, weil für die Forschung Drittmittel und Zeit zum Forschen wichtige Rahmenbedinungen sind. In der Wissenschaft wird immer auch ökonomisch gedacht. Erkenntnisse lassen sich aber nicht ökonomisch geplant, wie z.B. bei der Produktion eines Fahrrads, in bestimmter Zeit nach einem Muster herstellen. Verschulung ist für Wissenschaft schädlich, weil geglaubt wird, dass Erkenntnisse sich wie am Fließband produzieren lassen. Das Tagebuch ist der Versuch, das Studium als Prozess der Erkenntnisgenerierung zu erleben. Welche Erkenntnisse interessieren mich persönlich? Welche Schwierigkeiten stellen sich mir in den Weg? Und vor allem, wie sieht der Erkenntnisprozess der anderen Studierenden aus? Wie kann ich mit den anderen zusammen meine Erkenntnisse erweitern? Um aus dem Ökonomiekreislauf ausbrechen zu können, soll die Art und Weise, wie ich Erkenntnisse gewinne bewusster ablaufen. Wenn es 50 Prozent der Studierenden und der Lehrenden gelingen würde, die negativen Folgen der Ökonomisierung des Studiums zu reflektieren und an ihrer Überwindung zu arbeiten, wäre der wissenschaftliche Ertrag des Studiums deutlich höher.

speakUP: Gibt es denn schon Rückmeldungen von Dozierenden oder Studierenden?

Ludwig: Ja, die Rückmeldung erfolgt in Form der Nachfrage. Es wurden bislang bundesweit, aber auch in Österreich und in der Schweiz ca. 300 Kurse durchgeführt. Allein in der zuletzt aktualisierten Version des Online-Lerntagebuchs sind aktuell ca. 600 Nutzer aktiv. Wir haben viele Anregungen erhalten. Mit diesen Hinweisen haben wir eine überarbeitete Version des Online-Lerntagebuchs online gestellt. Die aktuelle Version hat mehr Funktionen und ist flexibler einsetzbar. Zum Beispiel können die Dozierenden Einstellungen für einzelne Sitzungen oder für aller Sitzungen zusammen sehr leicht vornehmen. Die Studierenden bekommen jetzt ähnlich wie bei Facebook die am meisten diskutierten Beiträge ihrer Kommilitonen empfohlen und erhalten so erste Hinweise für einen Einstieg zum Austausch mit den anderen Studierenden.

speakUP: Vielen Dank für das Gespräch!

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