Ein desillusionierter Philosophiestudent, der zum Terroristen wird; ein deutscher Soldat, der sich in einer niedergemetzelten Welt wiederfindet; zwei Freunde, die in einem zerfallenen Amerika an der bescheidensten Hoffnung zugrunde gehen – In dieser Saison erzählt das Potsdamer Hans-Otto-Theater die Biografien von Menschen, die sich nur nach einem sehnen: dem Guten Leben. Eine Rückschau – mit dem Blick nach vorn. Von Denis Newiak.
Beckmann – gesichtsloser Vertreter der verlorenen Jugend, die in den schrecklichsten Krieg zum Vernichten geschickt wurde – kehrt zurück ins Nichts. Gott rennt rum und heult. „Warum weinst du denn?“, fragt man ihn. „Weil ich es nicht ändern kann! Meine Kinder!“ – Gott hat sich entsetzlich zurückhaltend gezeigt in den letzten Jahren. Nun ist in dieser Welt der Tod der neue Gott, an den die Menschen glauben müssen. „Wie die Fliegen kleben die Toten an der Wand dieses Jahrhunderts.“ Mit der Last der Schuld beladen steht Beckmann in Wolfgang Borcherts Stück verlassen „Draußen vor der Tür“ – jede Tür bleibt zu. Mit seiner heimgebrachten Verantwortung, die niemand zurückhaben möchte, will und kann er nicht leben. Nun ist der Krieg aus, und es ist trotzdem kalt. Beckmann will sterben. Doch wie wenig braucht es dann, um ihn von seinem Todeswunsch abzubringen? Eine wärmende Umarmung, ein hoffnungsvolles Wort, ein verlockender Rock – das könnte das Gute Leben bedeuten, nachdem sich Beckmann stellvertretend für alle auf der Bühne und im Publikum so sehr sehnt.
„Es ist so entsetzlich still in dieser Welt“, spricht zu ihm das Mädchen. „Sag etwas! Dann sind wir nicht so allein.“ Auch wenn die ‚Beckmänner‘ dieses Stücks (das Programm weist gleich fünf von ihnen aus, die untereinander immer wieder die Rollen tauschen, immer „der Andere“ sind, und doch immer die Selben) vor der vollkommenen Leere stehen: mit dem Tod will sich jetzt niemand mehr zufriedengeben. „Beckmann, du musst leben, weil – alles lebt! … Ich vergesse dich nicht!“ – „Das ist schön. Da kann man ja in Ruhe tot sein.“
„Das ist also das Leben“, denkt sich Beckmann – der ermordete Mörder. Was ist das bloß für eine bittere Welt, in die Regisseur Peter Zimmermann seine vielen ‚Beckmanns‘ auf der Bühne der Reithalle des Potsdamer „HOT“ entlassen hat? Welche Sehnsüchte entwickeln die Theaterfiguren, die sich durch eine verkrustete Gegenwart kämpfen müssen? Und was hat das Ganze mit unserer eigenen Zeit, unseren eigenen Hoffnungen zu tun?
Als Uwe Tellkamp 2005 den „Eisvogel“ veröffentlichte, war die „New Economy“ gerade gescheitert: Euphorisiert von den gesellschaftlichen Möglichkeiten und ökonomischen Potentialen des „World Wide Web“ wurden Unsummen in „Start-Ups“, NEMAX-Werte und die Telekom-Aktie investiert. Als die Dotcom-Blase schließlich platzte, war das Vermögen von Klein- wie von Großanlegern verbrannt – mindestens 200 Milliarden Euro. Die Marktwirtschaft manövrierte sich in ihre schwerste Krise, die bis heute andauert. Hinzu gesellen sich bankrotte Staaten, Sozialabbau, politische Mutlosigkeit – das ist die Kulisse, vor der Stefan Ottenis Inszenierung des Tellkamp-Werkes spielt: Der studierte Philosoph Wiggo soll sich nach der Dissertation wie ein Parasit fühlen, der niemandem Nutzen bringt. „Wir haben noch nie einen Philosophen in ein philosophisches Arbeitsverhältnis vermittelt“, sagt man ihm auf dem Arbeitsamt. Wie sein Autor weiß auch Wiggo, dass „ein Leben ohne Utopie nicht möglich“ ist – gerade dieses Leben. Doch auf seiner Suche nach dem Guten Leben ist Wiggo blind geworden: Auf der Bühne des Neuen Theaters wacht er mit Verbrennungen dritten Grades in einem Krankenhaus wieder auf. Den Stillstand seiner Zeit nicht mehr ertragend, war er auf den charismatischen Mauritz getroffen, der mit Unterstützung von Erzkonservativen und der Großindustrie die terroristisch agierende Untergrundorganisation „Wiedergeburt“ anführte. Als ein Sprengsatz hochgeht, erschießt Wiggo Mauritz, bevor es zum Äußersten kommt. Der Terrorismus ist abgewendet, doch die wütenden Fragen in ihm bleiben unbeantwortet, die Hoffnung nach dem Besseren unbefriedigt. Das ist gefährlich.
„Ich sehe, dass es rings um uns brennt. Wie soll das hier weitergehen?“, fragt Tellkamp in einem Interview zu seinem Skandalroman. Die Eurokrise mache ihm Angst: Es sei ein neuer Krieg, wo keine Waffen herrschen, sondern Geld vernichtet werden müsse. Wenn das Geld von Staaten und Menschen erst einmal weg ist (so wie in den europäischen „Krisenstaaten“ und in den Portmonees der gerupften arbeitenden Bevölkerung), beginnen wieder die „elementaren Verteilungskämpfe“. Dann geht es nicht mehr darum, gut zu leben, sondern – überhaupt zu überleben. Wenn, wie es Elmar Krekeler sagt, „die soliptisch um eigenen Machterhalt kreisende Demokratie“ keine Antworten liefern kann, sich ihrer Verantwortung nicht stellt, dann könnten wir bald alle wieder zu Beckmännern werden. Nicht nur im Theater scheint es so, als stünden wir kurz davor.
Gut leben – das wollen auch die Figuren in „Ein Volksfeind“ nach Henrik Ibsen in der aufwändigen Inszenierung von Markus Dietz: Umzingelt von Mauern aus Getränkekisten, plantscht die Bevölkerung ausgelassen im neueröffneten Heilbad. Es soll der Stadt Gesundheit, Wohlstand und Ansehen bringen. Als dann Badearzt Stockmann aufdeckt, dass das vermeintliche Heilwasser in Wirklichkeit wie ein dreckiger Sumpf verseucht, eine „gut getarnte Giftgrube“ ist, wollen plötzlich alle aus dem Wasser raus, einer hoppelt verängstigt und angewidert auf einem Stuhl hinfort.
Doch es gibt noch einen tieferen Sumpf in dieser Stadt: die Lokalpolitik. Jedes Argument des Arztes wird ihm im Mund umgedreht, alle Wahrheiten geleugnet. Und die unschlagbaren Gegenargumente hat der korrupte Bürgermeister natürlich parat: „Die Allgemeinheit braucht Arbeitsplätze!“ und „Auch ich bin ein Freund der direkten Demokratie – wenn sie der Bevölkerung nicht zu teuer kommt“. Plötzlich ist derjenige, der die Bevölkerung vor ihrer Selbstverseuchung schützen will, ein „Feind der Gesellschaft“. Für die Sache (und auch für sich selbst) müsste Stockmann weitermachen, die Fakten publizieren, das verlogene System zum Einsturz bringen – doch für seine vor dem Scheitern stehende Familie müsste er aufgeben. René Schwittay spielt (wie schon in „Iwanow“) seine Paraderolle als gescheiterter Idealist, der seine Vorstellung einer aufgeklärten Gesellschaft nicht mit dem vereinbaren kann, was ihm die Gegenwart vorsetzt. Wenn er dann von einem Turm aus Wasserkästen seinem Hass auf diese Ordnung schreiend Ausdruck verleiht und knallrot anläuft, können wir uns sicher sein: Das mit dem Guten Leben hat sich hier vorerst erledigt. Und dieses Gefühl macht sich zuletzt nicht nur im Theater breit: „The Dark Knight Rises“, „Cloud Atlas“ und „Step Up Miami Heat“ haben uns in der aktuellen Kinosaison ähnliche Geschichten erzählt.
Wenn sich die Menschen auf diese hoffnungsvolle Suche machen, schlagen sie unterschiedliche Wege ein: Manche machen ihr Smartphone an oder loggen sich irgendwo ein, Andere heiraten oder machen Yoga, nur Wenige treten in einen Verein oder eine Partei ein, Manche machen sich einfach aus dem Staub. Nach Amerika zum Beispiel. Nirgendwo anders hat sich das Gute Leben ein solch konkretes Gesicht gegeben wie im „American Dream“. Natürlich existiert dieses Antlitz nur in unseren Köpfen. Für Jean Baudrillard ist das Amerika unserer Vorstellung längst zu einer (illusorischen) traumhaften Gegenwelt, einem Fixstern am Himmel geworden, der uns als Hoffnung auf ein besseres Leben einlullt. Die leeren Landschaften, schnurgerade Straßen durchs Nichts, die leeren ahistorischen Städte können wir mit unseren Vorstellungen füllen. Sieglinde Geisel meint, dass man diesen „anderen Raum“ sehr leicht „mit Zukunft verwechseln kann“.
„Von Mäusen und Menschen“ von John Steinbeck spielt Anfang der 30er Jahre, zur Zeit der großen Depression in den USA. Jeder Dritte Erwerbsfähige ist arbeitslos, Autos werden von Pferden und Maultieren gezogen, „Hoovervilles“ aus Papp- und Wellblechhütten werden zu Heimaten der Verlassenheit und Armut. Der amerikanische Traum ist hier ausgeträumt. Nicht aber für die zwei Freunde, die wir hier kennenlernen: Naivling Lennie und sein Kumpel George ziehen als Wanderarbeiter durch die Leere des Landes. Sie wollen mit der Kraft ihrer Muskeln das Geld für ein kleines Stück eigenes Land und eine unschuldige Kaninchenzucht zusammenkratzen. Das ist ihr Traum, und er macht sich nicht durch Größenwahn verdächtig. „Na los jetzt! Erzähl von dem, was wir haben werden!“, ruft Lennie immer wieder seinem Weggefährten zu. Er kennt sie zwar auswendig, aber die Geschichte vom Guten Leben kann er nicht oft genug hören. Auch das Publikum soll sie hören: Elzemarike des Vos singt von den ebenso naiven Amerika-Bildern in unseren Köpfen – von Freiheit, Chancen und Glück.
Umso mehr wir uns für die beiden wünschen, dass sich ihre einfachen guten Träume bewahrheiten, desto mehr wächst die Gewissheit darüber, dass es bei einem Traum bleiben muss. Nichts hier ist echt: Die Versprechungen sind hohl, die Gebäude nur Pappkulissen. Und so müssen auch unsere beiden Freunde scheitern: Lennie, der getötet hat, soll nun selbst getötet werden. Lennie bittet ihn ein letztes Mal: „Jetzt erzähl, wie es sein wird!“ – „Bald, sehr bald, ganz bald.“
Und so suchen sie weiter: Astrophysiker Henri wird erst glücklich, nachdem er „Drei Mal Leben“ hinter sich hat; Doralice muss warten, bis die „Wellen“ der See sie aus ihrer allumfassenden Einsamkeit entlassen; und in Shakespeares „Wintermärchen“ wird das Unmögliche möglich: Ist die Vereinzelung erst überwunden, kann das getötete Gute wiederauferstehen. Doch auf dem Weg dorthin wird Falsches und Böses begangen. Schriftsteller Rainald Goetz sagt es so: „Besser wäre es, tot zu sein, als zu leben und den Tod eines anderen zu verschulden. Aber die Geschichte davor sagt das Gegenteil und fragt nach der Alternative: Wie würde es denn gehen, besser zu leben?“
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