Starkes Wortgefecht an Heilig Abend

Gleißend helles Licht. Klinisch weiße Wände. Ein Tisch, ein Telefon, zwei Stühle. An der Wand eine digitale Uhr. 22:30 Uhr. Der Ermittler Thomas verhört 90 Minuten die verdächtige Philosophieprofessorin Judith. Am Donnerstag, dem 12. April, fand in der Reithalle des Hans-Otto-Theaters (HOT) die Premiere des Krimistücks „Heilig Abend“ von Erfolgsautor Daniel Kehlmann statt. Von Nora Schneider und Eileen Schüler.

Eine Glasscheibe trennt das Publikum von dem kleinen Befragungsraum. Die Scheibe grenzt aus und bindet zugleich alle als passiv dasitzende Beobachter_innen ein. Zwei Kameras stehen links und rechts von der Bühne und sind auf das Publikum gerichtet. Die Zuschauer_innen haben das unwohle Gefühl überwacht zu werden. Aber sind wir das nicht eigentlich schon gewöhnt? Schließlich werden wir im öffentlichen Raum überall videoüberwacht – auf dem Bahnhof, im Bus, im Kaufhaus. Warum nicht im Theater? Dort ist es doch viel spannender die Emotionen der Zuschauer_innen zu beobachten.

Der Regisseur, Andreas Rehschuh, hat das Bühnenbild selbst entworfen. Ihm sei es wichtig gewesen, reduziert zu arbeiten, denn er wolle die inhaltliche Konzentration und die Konzentration auf das Spiel der Schauspieler, stellte er im Interview mit dem HOT fest.

Ausreichende Indizien

Das im Jahr 2017 erschienene Theaterstück von Daniel Kehlmann spielt am 24. Dezember. Die Philosophieprofessorin Judith (Marianna Linden) wird verdächtigt eine Bombe gelegt zu haben, die, laut Informationen der Polizei, um Punkt Mitternacht gezündet werden soll. Nun bleiben dem Ermittler Thomas (Arne Lenk) anderthalb Stunden, um von der Verdächtigten ein Geständnis zu bekommen und die Bombe zu entschärfen.

Zu Beginn ist weder dem Publikum noch der Verhörten klar, weshalb sie eigentlich verhaftet wurde. Fragen zu ihrem Tagesablauf beantwortet der Ermittler auf ihre Weigerung hin selbst. Er scheint sich gut in ihrem Leben auszukennen, alles zu wissen. Zu viel zu wissen. „Einen treueren Leser als mich finden Sie nie wieder“, betont er. Dabei kommt den Zuschauer_innen die Frage in den Kopf, welche unerwünschten Leser_innen man selbst in der digitalen Welt täglich habe und nichts davon wisse. Menschen können einfach überwacht werden, denn „die Bürger bringen ihre Mikrofone selbst ins Haus“. Alle Daten sind vorhanden, gespeichert und immer abrufbar. Denn wenn man erst einmal in den Kreis der Verdächtigen kommt, wird alles gegen diesen Menschen verwendet.

„Einen ganzen Abend kein einziges Wort über Bomben, das ist schon ein wenig auffällig“, bemerkt der Ermittler mit ironischem Unterton. Auch ihr Computer, der noch nie mit dem Internet verbunden war, müsse unbedingt von der Polizei untersucht werden, weil das sei schon sehr verdächtig. Es sind ausreichende Indizien, um jemanden zu einem ‚Gespräch zu bitten‘.

Vertreter des Systems vs. Systemkritikerin

Zwei Positionen stehen sich gegenüber, Thomas versucht alles um den Terror im Staat zu verhindern. Judith spricht sich für strukturelle Gewalt aus. Die Unterdrückten dürfen, ihrer Meinung nach, zu Gewalt greifen, um die als zunehmend ‚natürlich‘ erachtete Grenze von Arm und Reich zu durchdringen. Sie folgt den Ideen von dem französischen  Wegbereiter der Entkolonialisierung, Frantz Fernon, der sagt, dass „der einzigartige Kampf des Kolonisierten mit dem Kolonialherren ein offener und bewaffneter [ist].“ Für sie ist der Rechtsstaat nur noch eine Lüge, welche den Schein von Demokratie wahrt.

Doch das Verhör wird zunehmend undurchdringlicher. Gibt es die Bombe wirklich? Oder ist das auf dem Computer gefundene „Bekennerschreiben“ in Wirklichkeit nur ein Gedankenspiel für Judiths nächstes Seminar?

Kompliziert wird es als Judiths Exmann mit in die Rechnung kommt. Er wird bereits seit einem Tag fest gehalten. Wird er sie beschuldigen? Denn „es gibt auf jeden Fall einen, der sich mit uns [der Polizei] einigt und frei nach Hause geht“. 23:42 Das Telefon klingelt. Um 23:42 gesteht sie die Tat, dass es ihr Computer, ihre Pläne, ihr Sprengstoff gewesen sei. Schweigen, die Uhr läuft erbarmungslos weiter. Beklemmende Blicke zu den großen Leuchtziffern. Vielleicht ist es manchmal besser, etwas Falsches zu tun als gar nichts?

Marianna Lunden und Arne Lenk spielen überzeugend

Das Stück besticht vor allem durch seinen Witz und die schnellen, auf den Punkt gebrachten Dialoge. Marianna Linden und Arne Lenk müssen auf diesem eingeschränkten Bühnenraum alles geben. Arne Lenk spielt zwischen dem knallharten Ermittler und dem Mann, der diese Frau im roten Kleid doch eigentlich begehrt, erstaunlich gut. Marianna Linden überzeugt mit ihren Worten, die aus Wut und mit feinem Spott gesprochen sind.

Ohne Bühnenbildwechsel oder viele Requisiten liegt der Fokus gänzlich auf der Sprache und der Uhr. Mit der stetig weiterlaufenden Zeit, steigt auch die Spannung und das Stück gewinnt an Schnelligkeit. Fragen jagen Anschuldigungen, Mutmaßungen folgen privaten Details. Jeder der beiden versucht Informationen zu erhalten.

Themen werden angerissen. Überwachung, die Ungleichheit der Güterverteilung, Terroranschläge, Ausbeutung. Es ist ein Wechsel zwischen Freundlichkeit, Einschüchterung, Ablenkung, psychischer Gewalt. Und für Gerechtigkeit sind Gott und seine Engel da.

Trotz der erdrückenden Thematik lässt das Stück nicht an Humor fehlen. Der Witz, leichte Kommentare und dazwischen geschobene absurde Anekdoten verursachen immer wieder erheiterte Reaktionen von Seiten des Publikums. Es sind anderthalb Stunden, die erstaunlich schnell vergehen und einen nachdenklichen und zugleich beschwingten Eindruck hinterlassen.

Die nächsten Vorstellungen finden am 30. April, am 3., 12. und 19. Mai jeweils um 19.30 Uhr im Hans-Otto-Theater statt.

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