Ich oszilliere mit meinem Geliebten im Status Beziehung – Nicht-Beziehung. Ich liebe einen jungen Mann seit fünf Jahren und weiß nicht, ob er jemals dieses Geschenk annehmen wird. Und dann gibt es da noch eine wunderbare Affäre… Klingt seltsam? Für mich nicht. Ich habe mit 19 Jahren gemerkt, in zwei Menschen verliebt zu sein – als eine Freundin mir sagte, dass sei doch normal, machte es „klick“. Seit damals lebe und denke ich polyamor. Von Marie-Therese Hattendorf.
Was ist Polyamorie? Das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen polýs für viel, mehrere und dem lateinischen amor für Liebe. Es bedeutet zu akzeptieren, mehrere Menschen zu lieben und auch sich vorstellen zu können, mit mehreren Menschen eine Beziehung zu führen. Also: Ich habe mit zwei Männern eine Beziehung. Oder mit einem Mann und einer Frau. Oder mein Freund liebt noch einen anderen Mann; oder eine andere Frau. Oder noch mehr Menschen… aber bedenke: Jede Beziehung braucht Zeit; für Intimität, Vertrautheit, Nähe und Zärtlichkeit.
Die Welt ist bunt und für mich gehören auch offene Beziehungen zu Polyamorie. Der Unterschied liegt nicht in Sex oder Nicht-Sex oder „offiziell“ als Beziehung bezeichnet oder nicht – sondern ob ich meinem Partner (und mir) erlaube, zu anderen Menschen liebevolle Verbindungen einzugehen. Ob es nun für eine Nacht, einen Tag, viele Jahre oder immer mal wieder zwischendurch ist. Das unterscheidet Polyamorie auch von „Seitensprüngen“ und „Betthüpfen“: Es geht nicht „nur um Sex“.
Freiheit aufgeben, um Sicherheit zu haben
Jemand konnte einmal nicht verstehen, wieso ich nicht „wild durch die Gegend vögle, wenn ich das doch darf!“ Was mich zu dem Paradigma von Beziehungen bringt: „Du gibst Freiheit auf, um Sicherheit zu haben.“ Das Paradigma einer ausschließlichen Zweierbeziehung. Entweder oder. Muss das so sein? Dass es anders funktionieren kann, haben nicht nur Hippies in den 60ern erprobt, sondern auch schon Bertrand Russell, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Bertolt Brecht.
„Aber, aber, aber…!“ Ja, es ist nicht einfach. Man fällt nicht einfach als freier, sich selbst liebender, erleuchteter Mensch vom Himmel. In polyamoren Beziehungen wurde ich mit grundlegenden Ängsten und Schattenseiten konfrontiert. Zum Beispiel: „Ich bin nicht gut genug.“ Wir leben in ständigem Wettbewerb. Schule, Uniabschluss, Arbeitswelt; aber auch auf Facebook: Wer hat das coolste Leben? Und das übertragen wir auch auf unser Liebesleben. Kann ich also tatsächlich so sein, dass mein Partner mich liebt?
Oder: „Ich kann es nicht kontrollieren.“ Die Unsicherheit und die Angst, nicht zu wissen, was passiert. Eventuell doch nicht von allem erzählt zu bekommen. Oder auch dem Partner einfach nicht glauben zu wollen, was er fühlt. Oder: „Er liebt/ begehrt sie mehr als mich!“ Eifersucht ist im Grunde eine Spielart des ersten Satzes. Aber manchmal schwirrt in unserem Unterbewusstsein das Bild herum, dass die Stärke der Eifersucht ein Maß für unsere Liebe zum anderen Menschen sei – diese Vorstellung wie auch die Eifersucht ist dann über unsere Sozialisation produziert.
„Aber, aber, aber…!“ muss ich jetzt sagen. Man muss sich ja nicht Hals über Kopf in ein polyamores Abenteuer stürzen! Polyarmorie beginnt für mich dort, wo ich anfange über das nachzudenken, was ich für eine Beziehung selbstverständlich halte. Wo ich anfange, für andere Sichtweisen, Empfindungen, Gefühle, Gedankenkonstrukte und „Bilder im Kopf“ Raum zu machen. Wenn ich das hinterfrage, was ich als Beziehung ansehe. Worin zeichnet sich das überhaupt aus, „meine Beziehung“? Sieht mein_e Partner_in das genauso? Was ist dieser Person wichtig? Wie unterscheidet sie die Beziehung von Freundschaft? Was füllt die Beziehung in mir aus und wonach sehne ich mich noch? Was sind die Dinge, die ich mir von einer Beziehung ersehne und wie kann ich sie bekommen?
Ehrlichkeit reicht nicht: Es bedarf einer liebevollen Ehrlichkeit
Was ich durch Polyamorie gewonnen habe, ist mehr Authentizität in meinen Liebesbeziehungen. Ich weiß besser, wie ich Beziehungen führen will, weil ich es ausprobiert habe. Ich habe gelernt viel zu reden. Und ich habe gelernt, dass ich weiter lernen muss, mich auf eine Art und Weise zu verständigen, dass „mich mein Partner versteht“. Reine Ehrlichkeit reicht nicht, es bedarf einer „liebevollen“ Ehrlichkeit. Viel Mitgefühl. Ich habe viel über „das Lieben“ nachgedacht und ausprobiert und so unterschiedliche Arten kennen gelernt, eine Person zu lieben.
Ich habe mich oft gefragt, wieso ich so reagiere, wie ich es gerade mache und so viel, viel über mich erfahren. Ich habe gelernt, „für mich zu sorgen“. Das meint zu schauen, ob es mir mit einer Situation und dem, wozu die Situation führt, gut geht. Die Wahrscheinlichkeiten und das, was dranhängt, durchzuspielen und so zu handeln, dass ich mich dafür entscheide und mir das Gesamte gut tut. Am Ende führt Polyamorie – wie jede andere Liebe auch – mich zu mir selbst. Zu dem guten, alten Spruch, dass ich eine andere Person nur so lieben kann, wie ich mich selbst liebe.