Grenoble grüßt – Folge 1: Eine Lobeshymne auf Le Rabot

Ein Auslandssemester in Frankreich: Grenoble ist die Hauptstadt des französischen Départements Isère und der Dauphiné in der Region Auvergne-Rhône-Alpes im Südosten Frankreichs. Wie ist dort der Unialltag? Was erwartet mich im Studentenwohnheim? Von Damaris Reichert.

Zwei Sichtweisen

Das Studentenwohnheim Le Rabot liegt etwa 110 Höhenmeter oberhalb von Grenoble. Ein Bus fährt regelmäßig zwischen 7.00 Uhr und 8.30Uhr, zwischen 12.00 Uhr und 13.00 Uhr und zwischen 16.00Uhr und 20.00 Uhr. Samstags fährt er auf Anfrage, im Winter bei Schnee wird der Bus nicht fahren, oder auch wenn es stürmt und ein Baum auf die Straße gefallen ist. Dann muss man sich eben 20 Minuten lang entweder auf Serpentinen oder auf Treppen nach oben quälen.

Das Studentenheim besteht aus fünf verschiedene Gebäude. Das Gebäude Chartreuse ist ein alter 60er Jahre Bau, der nach dem Motto der Effizienz gebaut wurde. Auf fünf Stockwerken befinden sich 300 9m²-Zimmer, die durch einen langen, weißen, sterilen gefängnisähnlichen Gang miteinander verbunden sind.

Für die 300 Studierenden gibt es eine Waschmaschine, für die man sich Sonntagabends nach einer langen Wartezeit im Treppenhaus auf einer Liste eintragen kann. Im zweiten Stockwerk, in dem über 50 Menschen wohnen gibt es zwei Küchen mit jeweils einem Tisch und insgesamt drei Stühlen und sechs Herdplatten. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn in der Spüle eine 10cm dicke Schicht von Essenresten vor sich hin gammeln und das Wasser nicht mehr abfließt. Zudem gibt es drei Duschen und sogar sechs Toiletten – wer sich hier allerdings auf eine Toilettenbrille freut, wird enttäuscht sein: Es handelt sich um Stehklos. Im dritten Stock wurde in der Dusche einmal als nette Botschaft ein Kackhaufen hinterlassen, im Treppenhaus verweste einmal drei Wochen lang Erbrochenes. Die Wände sind dünn wie Pappe und lassen uns weit mehr über unsere Nachbarn erfahren als uns lieb ist.

Willkommen im Rabot

Das Studentenwohnheim liegt auf einem Hügel etwas unterhalb der Bastille, was eine Festung und gleichzeitig DIE Sehenswürdigkeit Grenobles ist. Man hat eine wunderschöne Aussicht von dort oben, aber auch die Fenster der Zimmer im Rabot bieten einen schönen Blick auf das Bergmassiv der Belledonne, die Stadt Grenoble und den Sonnenaufgang.

Auf dem Fahrrad kann man die Serpentinen hinunterdüsen mit einem wunderschönen Blick über Grenoble und ist innerhalb von fünf Minuten in der Innenstadt Grenobles mit seinen Restaurants und Bars. Schiebt man auf dem Rückweg sein Fahrrad wieder den Hügel hinauf, trifft man oft andere „Rabotin_innen“, die einem den Aufstieg durch kurze Gespräche verkürzen.

Es geht hier lustig zu

In dem Gebäude Chartreuse wohnen viele französische, aber vor allem internationale Studenten, die sich jeden Sonntagabend im Treppenhaus anstellen, um sich aufdie Liste für die Waschmaschine einzutragen. Man hört Studierende, die sich kennenlernen, die sich über ihr Wochenende austauschen und/oder Pläne für das kommende Wochenende machen. Über mehrere Stockwerke verteilt sieht man, was passieren kann, wenn man trotz technischer Möglichkeiten auf die banale Technik einer handgeschriebenen Liste zurückgreift. Der lange sterile Gang, der einem Gefängnis oder Krankenhausgang ähnelt, ist so lang, dass er sich auch dazu eignet, Wettrennen zu veranstalten und zu sehen, wer am schnellsten die lange Distanz zurücklegt (Der Rekord lag bei 19 Sekunden). So ein Gang eignet sich auch hervorragend dafür, morgens um 4 Uhr Musik zu machen. Somit macht man auch die Früh-zu-Bett-Geher auf dieses Ereignis aufmerksam und bietet ihnen die Chance daran teilzuhaben.

Es gibt hier auch eine Bar, die mittwochs und freitags geöffnet hat und von Freiwilligen am Laufen gehalten wird. Ein Student veranstaltet donnerstags Spieleabende, andere planen Filmabende, weitere geben Sprachkurse und wieder andere bepflanzen den Gemüsegarten des Studentenwohnheims.

Die Küche im Gebäude Chartreuse ist nicht sehr groß, dennoch finden sich dort jeden Abend Menschen aus vielen verschiedenen Ländern ein. Sie kochen gemeinsam oder parallel oder lassen jemanden mitessen. Ist jemand krank auch mal für diese Person kochen. Sie ist ein weiterer Treffpunkt, wo man sich kennenlernt und meistens ist sie auch der Ausgangspunkt für lange gemeinschaftliche Abende mit verrückten Ideen und Gesprächen.

Die Flure der Chartreuse sind gefüllt mit „Salut, ça va?“‘s, Gesprächen, Umarmungen, kurz gesagt – und das ist nicht übertrieben: mit Liebe. Das hier ist eine Familie! Braucht jemand einen Teller oder Messer oder ein Schneidebrett, einen Fön oder eine Matratze findet sich immer jemand, der einem etwas leiht. Man muss etwas ausdrucken, hat Fragen zu einem Programmierprogramm oder möchte eine neue Sprache lernen, dann muss man sich nur in der Facebook-Gruppe des Studentenwohnheims zu Wort melden und findet eine Person, die einem weiterhelfen kann.

Diese beiden Beschreibungen existieren nebeneinander und ich sehe es als meine Pflicht, von beiden zu berichten. Es bleibt nun jedem selbst überlassen, welche dieser Sichtweisen überwiegt. Ich habe mich für eine Lobeshymne entschieden.

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