Klingt wie „Gollum“

Der Campus im Brandenburgischen Nirgendwo hat schon so einiges einstecken müssen. Erzähle ich, dass ich in Golm wohne, ernte ich meist bloß mitleidsvolle Blicke. Und wo bleibt hier eigentlich das Nachtleben? Von Natalia Oglanova.

Warst du schon jemals an einem Samstagnachmittag in Golm? Nein? Dann hast du ja vielleicht eine vage Vorstellung davon, wie es an Samstagnachmittagen hier aussieht.

Sobald ein Arbeits- oder Unitag endet, stürmen Scharen von Studierenden und Lehrenden das Gelände. Taschen werden zugeklappt, Fahrräder befreit und der öffentliche Nahverkehr erklommen. Übrig bleibt nur der hartgesottene Kern: die ständigen Anwohner_innen. Seit etwas mehr als einem Jahr gehöre auch ich zu diesem beschaulichen Kreis.

Erste Wahl war Golm für mich dabei von Anfang an nicht. Als mir die Restplatzvergabe des Studentenwerks an einem frostigen Oktobermorgen ihr einzig übriges Angebot vorlegte, musste ich zunächst schlucken. Das kleine Zimmer in der alten DDR-Baracke mit geteilter Küche und geteiltem Bad entsprach nicht gerade meiner Traumvorstellung von der „ersten eigenen Wohnung“. Aber gehören Vorstellungen nicht ab und an auch durchkreuzt?, dachte ich in einem Moment der Risikobereitschaft und unterschrieb den ersten Mietvertrag meines Lebens.

Wohnen im Nirgendwo: ein Fallbeispiel

Mein Haus ist eins von den insgesamt sechs Golmer Wohnheimen. Ursprünglich wurde es in den 1930ern als Kaserne für die Reichswehr erbaut und beherbergte seit dem Krieg angehende Mitarbeiter der Stasi.

Betritt man meinen Hausflur heute, so denkt man vielleicht an vieles, nur nicht an das. Schullandheim? Besserungsanstalt?

Als ich zum allerersten Mal die Tür zu einer der Zellen aufschloss, die von nun an mein Zimmer werden sollte, begrüßte mich der Kühlschrank mit einem Brummen aus der Ecke. Über dem Waschbecken – ein mit Tesafilm befestigter Spiegel. So weit, so gut.

Schon bald stand meine erste Übernachtung bevor. Die Vorstellung, mich in dieser Bruchbude jemals heimisch zu fühlen, schien mir in diesem Moment etwa so weit weg wie Neukölln. Ich war aufgeregt und unzufrieden, mein so genanntes Zimmer ein einziges Schlachtfeld aus Umzugskartons und mein Magen ein leeres knurrendes Loch. Also beschloss ich, dem Spuk ein Ende zu bereiten, legte mein einsames Brötchen auf eine Untertasse und wagte mich in Richtung Küche.

Was mir an jenem Abend entgegenkam, erschien mir damals wie das blanke Chaos. Studis verschiedenster Altersgruppen und Herkunft durchfluteten den Raum, füllten ihn mit dem Geruch von unterschiedlichstem Essen und tanzten nebenher den Darf-Ich-Mal-Durch-Tanz.

Seit jener Zeit ist nun knapp ein Jahr vergangen. Mittlerweile tanze auch ich selbst ganz gut. All das, was mir damals wie der Gipfel exotischer Anarchie erschienen ist, ist heute ein Stück Zuhause geworden. Dass ich Golm eines Tages so lieb gewinnen würde, dass ich dafür sogar ein WG-Angebot im coolen Berlin ausschlage, habe ich zu einem großen Teil meinem Wohnheim zu verdanken. Aber auch sonst hat Golm so einiges zu bieten.

Für Fans der Kleinstadtromantik

Verlassen wir nun einmal Haus 3. Du liebst ausgiebige Spaziergänge im Grünen und hast gerne deine Ruhe? Willkommen in Golm – um hier einmal wirklich für dich sein zu können, musst du nichts weiter tun als aus der Haustür zu treten. Du playbackst manchmal gerne die Musik aus deinen Kopfhörern – und das auf offener Straße? Perfekt, denn hier kannst du peinlich sein so viel du willst! Du wolltest dich schon immer mal im Kampf mit wilden Raubtieren behaupten? Golmer Katzen, betretet die Arena! Du magst lachen, aber wer im Wald mit den Wildschweinen lebt, hat durchaus das Potenzial, verwöhnte Städter einmal so richtig das Fürchten zu lehren!

Für alle die, die auf französische Kleinstadtromantik stehen, habe ich noch einen ganz besonderen Tipp: Schnappt euch euer Fahrrad und fahrt es durch den verwunschenen Wald, an rauchenden Schornsteinen vorbei zum Eiche-Edeka. Baguette beim besten Bäcker der Welt gekauft, Akkordeon-Musik gesummt – fertig ist das imaginierte Erlebnis à la Amélie!

Wer mit Tagträumereien und Albernheiten allein jedoch nicht glücklich wird, fragt sich nun sicherlich, ob es nicht auch handfestere Wege zum Wohn-Glück in Golm gibt.

Ein psychedelisch wirkender Stuhl vor Haus 14 weist direkt in einen möglichen Ausweg aus dem Debakel: das Lesecafé. Diese mit viel Liebe und Kreativität zusammengewürfelte Bude ist ein von Studis für Studis geschaffener Ort, an dem in uriger Atmosphäre gelernt, gelacht, musiziert, gequatscht und – nicht selten gesehen – auch geschlafen wird. Doch obwohl das Café generell gut besucht ist und an Donnerstagen sogar mit einem abendlichen Metal-Tresen für Programm sorgt, rutscht den meisten von uns der Satz „Hey, es ist Samstagabend, fahren wir doch nach Golm – da ist sicher was los!“ nicht unbedingt leicht über die Lippen.

Drei Tage wach?

An dieser Stelle könnte man sich fragen, warum es nicht mehr studentische Freizeitalternativen gibt. Studierende gibt es zuhauf, Raum sowieso. Wo bleibt das Engagement, Leute? Wie bei vielen anderen Dingen könnte man den erhobenen Zeigefinger auch hier auf die Bologna-Reform richten, die nicht ganz unschuldig daran ist, dass Studierende sich lieber um einen schnellen Studienabschluss als um die Planung zusätzlicher Nachtveranstaltungen kümmern. Das ist der eine Grund.

Der zweite Grund ist mit dem Bus in knapp 15 Minuten erreichbar und hat so einige bewährte Kneipen zu bieten. Hier wird irgendwie klar: So sehr Golm sich auf dem Weg zur Partymetropole studentischer Nächte steigern würde, irgendwo würde es auf dem Gebiet doch immer ein Stück hinterherhinken.

Aber wisst ihr was? Manchmal, wenn ich von einer chaotisch-bunten Berliner Party komme, nach langem Heimweg endlich am Golmer Bahnhof stehe, wo meine Lunge sich mit Nachtluft füllt und ich in den leuchtend hellen Sternenhimmel über mir blicke, dann – ja dann denke ich, dass es vielleicht gar nicht so verkehrt ist, hier in Golm.

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