Keine Pflicht zum Beten

250.000 Menschen sind in Deutschland im vergangenen Jahr ins Kloster gegangen – als zahlender Gast auf Zeit. Dabei suchen viele der Besucher_innen nicht einen „Gott“, sondern vor allem sich selbst: In der Stille des Klosters hoffen sie, den Stress und die Überforderung des Alltages hinter sich lassen zu können. Für Studis im Klausur- und Hausarbeitenwahnsinn eine interessante Sache. Vom experimentellen Rückzug aufs Brandenburger Land berichtet Denis Newiak.

Der ‚Bachelor‘ neigt sich dem Ende zu, bevor er überhaupt richtig angefangen hat: Nach drei Jahren des hektischen Aufsaugens von Wissen soll sich nun zeigen, ob etwas von meinem Studium der „Europäischen Medienwissenschaft“ im Kopf hängen geblieben ist. Da soll nichts schief gehen. Also habe ich mich davor gerettet, die Arbeit zu Hause schreiben zu müssen (wo das Bett immer zu einem Ni- ckerchen und der Fernseher mit Big Bang Theory zur Zerstreuung einlädt), und mich rechtzeitig mit einem abschließbaren Bücherwagen ausgerüstet, der im Lesesaal der Universitätsbibliothek am Neuen Palais die fünfzig Titel meiner Arbeitsbibliographie verwahrt. Leider darf man ihn nur zwei Monate behalten.

„Zur medialen Topik der Einsamkeit bei Friedrich Nietzsche“ heißt das Thema der BA- Thesis in Kurzform. Klingt ganz gut, doch selbst in den speziellen Schutzräumen der Bibo – in der Anwesenheit nervös vibrierender Kommunikationsapparate, neben (teils sich des von ihnen ausgehenden Lärmpegels nicht immer völlig bewussten) strebsamen Kommiliton_innen im Lesesaal und in ständiger Versuchung der kulinarischen Kreationen der Mensa – ist die Arbeit an der Arbeit nicht immer so einfach. Vor allem, wenn die Leihfrist für den lieb- gewonnenen abschließbaren, aber leider vorgemerkten Bücherwagen bereits ab- läuft, bevor man überhaupt nur ein Wort geschrieben hat.

Wenn die Stapel der zu bearbeitenden Bücher wächst statt schrumpft, die Liste der ausstehenden Aufgaben aufgerollt werden muss und sich mit dem sich zuspitzenden Zeitmangel ein unangenehm zittriges Gefühl in der Magengrube entwickelt, muss sich etwas ändern. Jetzt hilft nur noch die Flucht ins Kloster.

In der Abtei St. Gertrud, in welcher 30 Benediktinerinnen Tag ein, Tag aus ihr Leben selbst organisieren, ist das Leben kein Ponyhof – auch wenn es dort auf den ersten Blick wie auf einem aussieht: Am Rande des kleinen Alexanderdorfes, 30 Kilometer südöstlich von Potsdam, liegt das heilige Gelände direkt an herrlichen Getreidefeldern und geheimnisvollen Wäldern. Das alte Gutsgelände, welches 1934 zum Kloster umgewandelt wurde, beherbergt heute Wohnräume für die Nonnen, einen Gemüsegarten, Tagungs- räume, Speisesäle – und ein Gästehaus für Leute wie mich. Auch eine Kirche gibt es hier. Am Klosterteich quaken die Frösche die ganze Nacht durch, als würde es kein Morgen geben, und filigrane wie überge- wichtige Insekten machen brummende Geräusche, die irgendwie doch beruhigender wirken als der Wusel-Sound der Studis und ihrer Handys im Lesesaal.

Doch das Leben in der Idylle erfordert eine knallharte Zeitplanung – vor allem, wenn man spirituell angehaucht ist. Wer sich nach einer sechsjährigen Probezeit für das Leben als Nonne im Kloster qualifiziert hat, muss sich morgens um 6 in der Kirche zur Laudes, dem Morgenlob, einfinden. Davor und danach wird ein je halbstündiges einsames Gebet abgehalten. Zwischen der Eucharistiefeier um 7.45 Uhr, der Mittagshore, der Vesper um 17.30 Uhr und dem langen Abendgebet wird gearbeitet. Gebet und Arbeit gehören für die Benediktinerinnen zusammen.

Jede Nonne hat ihre speziellen Aufgaben. Manche sind für die Pflege des großen Klostergartens und dessen ökologische Bestellung zuständig, andere backen Hostien und verschicken sie bis nach Si- birien. Eine Nonne ist für den Klosterkater zuständig, eine andere für die Bibliothek, wieder andere für die Kranken und Schwachen. Zwischendurch muss noch Zeit bleiben für den gemeinsamen Ge- sangsunterricht und die Chorproben. Die Freizeit ist knapp. Die Ferien verbringen viele der Nonnen sogar in anderen Klös- tern, um zu sehen, wie dort der Alltag organisiert ist und daraus zu lernen.

„Brüder und Schwestern sollen durch den Verzicht auf privaten Besitz frei werden vom Streben nach einer Erfüllung, die doch immer vorläufig bleiben muß“, steht im Büchlein Nicht auf Sand gebaut von Ruth Lazar über die Gemeinschaft; Erfüllung bringe erst das „gemeinsame Eigentum des Klosters“. Wenn man das liest, könnte man glatt glauben, dass sich hier ohne großes Aufsehen die wildesten und wünschenswertesten Gesellschaftsutopien erfüllt haben.

Am ersten Morgen habe ich mich dagegen entschieden, mich wegen der zu „unchristlichen“ Zeiten läutenden Glocke aufzuregen, auch wenn sie mich erbarmungslos aus dem Schlaf rissen. Ich bin eben ein Eulen-Typ, geh gern spät schla- fen und stehe spät auf. Doch hier läuft das Leben anders: Das klar terminierte Frühstück zu verpassen, konnte ich mir während meiner vier Tage in Stille und Zurückgezogenheit nicht leisten. Schließlich war ich weder zum Beten, noch zur körperlichen Arbeit ins Kloster gekommen, sondern um mit der Bachelor-Arbeit zu kämpfen. Und siehe da: Außer den besänftig quakenden Teichbewohnern und den Summbienen gibt es nichts, was eine_n ablenken könnte. Eintausend Seiten Briefe des Philosophen sind in zwölf Stunden durchgearbeitet, in der verblei- benden Zeit werden drei Standardwerke, Kommentare und eine Einführung durchstöbert. Bei meinem gemeingefährlich langsamen Lesetempo hätte mich dieses Pensum unter „zivilisierten“ Bedingungen einen Monat gekostet. Kein Wunder, dass sich Nietzsche zum Arbeiten auf die ein- samsten Berge zurückgezogen hat. Was man der Vollständigkeit halber ergänzen muss: Er wurde am Ende wahnsinnig.

Den ganzen Tag über begegnet man im Kloster nur so vielen Menschen, wie man will. Weil ich ein geselliger Mensch bin, schließe ich mich nicht im Zimmer ein, sondern lümmele am Teich und lese vor mich hin. Viele Worte wechsele ich dabei aber doch nicht – höchstens verfluche ich die zum Stich ansetzenden Mücken. Gesellig wird es vor allem zu den vier Mahlzeiten: Ein paar Minuten vor Beginn jeder Speisung ruft die Glocke das ganze Kloster zusammen. Wie von unsichtbarer Hand gesteuert finden sich die hungrigen Gäste in ihrem separaten Speisesaal ein, wo die Gastschwester schon die Gerichte vorbereitet hat. Beim Tischgebet kann man auch schweigen. Jede_r wird satt, aber überfressen kann man sich nicht wirklich. Geredet wird zurückhaltend, richtig schwatzen tun nur ein paar Damen, die manche_r liebevoll „Klatschmaul“ nennen würde. Ich treffe sogar die Mutter einer Kommilitonin aus meinem Studiengang, die auf der Suche nach Ruhe ist – wer hätte das gedacht!

Vor meiner Abreise ins fern wirkende Potsdam decke ich mich mit lokal erzeugtem Honig ein, der auf Vertrauensbasis bezahlt wird. Am Sonntag, bevor ich abfahre, gibt es einen feierlichen Sonntagsbraten. Wenn ich in Potsdam bin, gibt es bei mir jeden Tag feierlichen Sonntagsbraten. In der Universitätsbibliothek vermisse ich meinen Bücherwagen. Doch siehe da: Tatsächlich hat der Student, der ihn hat vormerken lassen, gar nicht abgeholt. Pech für den Studenten, Glück für mich: Jetzt ist er wieder mein und beherbergt die Bücher, die hier morgens auf mich warten. Und doch: Das Vibrieren der Handys ist irgendwie schön, auch die manchmal zu laut quatschenden oder kauenden Studis stören mich nicht mehr. Im Gegenteil, sie quaken noch schöner als die Frösche am Teich. Aber es ist gut zu wissen, dass es Orte gibt, an denen man von ihnen eine Auszeit nehmen kann.

Abtei St. Gertrud Kloster Alexanderdorf
Übernachtung inkl. vier Mahlzeiten (min. 3 Ü, Studi-Preis): 27 Euro
Informationen zum Gastaufenthalt unter Telefon 033703-916-0
kloster-alexanderdorf.de facebook.com/kloster.alexanderdorf

Bücherwagen können in Griebnitzsee und am Palais in der UB bestellt werden. Falls sie vergriffen sein sollten, kann man sich auf die Warteliste setzen lassen.

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